An der Grenze zum „Ausland“

An der Grenze zum „Ausland“

Die Arbeiter von Simmersbach fahren in den Dillkreis

Dort wo die Bundesstraße 252 in den Dillkreis hinüberführt, liegen die Arbeiterdörfer Simmersbach und ein wenig abseits Roth. Bis heute !951) haben beide Dörfer ihren bäuerlichen Charakter bewahrt. Manch schöner Fachwerkbau, manch alte Hausinschrift sprechen von dem handwerklichen Können der alten Meister. Bis auf wenige Ausnahmen tragen die Häuser ein Schieferdach. Kein Wunder, denn in Simmersbach selbst, in Wissenbach und bis vor wenigen Jahren auch in Oberdieten, wird seit undenklichen Zeiten der blauglänzende Schiefer aus der Erde gegraben.

Beide Dörfer verdienen die Bezeichnung Grenzdorf. Denn sowohl eine Wasserscheide wie die historische Grenze zwischen dem Kreis Biedenkopf und dem Dillkreis führen wenige Kilometer weiter vorbei. Vor 1865 war die Kreisgrenze auch die Grenze zwischen dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt und dem Herzogtum Nassau. Noch heute sagen die Simmersbacher, wenn sie nach Dillenburg wollen: „Wir fahren ins Nassauische“, und die Eibelshäuser kommen „ins Hessische“. Der scharfe Schnitt zwischen den beiden Herzogtümern war beinahe so scharf wie der von heute zwischen Frankreich und Deutschland, was ein altes Schriftstück beweist. Vor 100 Jahren hatten die Eibelshäuser Holz im Wald von Simmersbach gesteigert, dachten aber nicht an das Bezahlen. Als alles Mahnen des Gemeinderechners unbeachtet blieb, richtete er eine „gehorsamste Anfrage an das großherzogliche Kreisamt in Biedenkopf“, welche Maßnahmen er ergreifen solle, um die beiden ..Ausländer“ zur Zahlung zu bewegen.

Heute hat die historische Grenze nicht mehr viel zu bedeuten. Geographische, wirtschaftliche und Verkehrstechnische Momente haben das Übergewicht. Alle in der Gemarkung Simmersbach fließenden Gewässer, darunter das größte, das dem Ort den Namen gab, fließen der Dietzhölze im Dillkreis zu. – Die Wasserscheide bilden die Stiete bei Roth und der Mattenberg bei Lixfeld. Es ist natürlich, daß auch die Bahnlinie, die diesseits der Wasserscheide liegt, nämlich die von Dillenburg nach Ewersbach, den Verkehr auf sich gezogen hat. Für Roth ist Steinbrücken und für Simmersbach Eibelshausen, beide im Dillkreis Bahnstation. Daß der Verkehr und die Wirtschaft zum Dillkreis tendieren, ist auch in der Entfernung zu den beiden Kreiszentren begründet. So sind Biedenkopf 20 km und Dillenburg nur 12 km entfernt. Die Post hat aus dieser abseitigen Lage der beiden Dörfer die Folgerung gezogen, sie dem Selbstwähleramt Ewersbach und damit dem Fernamt Dillenburg anzuschließen. Ein Ortsgespräch kann demnach nur mit den im Dillkreis liegenden Dörfern geführt werden. Wer z. B. von Roth nach dem nur 2 km entfernten .Achenbach telefonieren will, muß oft sehr lange warten und außerdem 0,50 DM bezahlen, da Achenbach ja zum Fernamt Biedenkopf gehört.

Ganz deutlich wird diese Ausrichtung nach Westen aber bei der Untersuchung, wo die Arbeiter ihr Brot finden. Nur fünf von ihnen, abgesehen von den im Ort selbst Beschäftigten, haben ihre Arbeitsstätte im Kreis Biedenkopf. Die meisten sind bei den Buderus’schen Eisenwerken in Eibelshausen und Ewersbach, im Sägewerk Holighaus und bei der Stuhl- und Möbelfabrik Krenzer in Frohnhausen beschäftigt. Nur zu natürlich, daß auch der Rother Fußballverein der Dillgruppe angehört. Wie soll er auch schnell genug nach Diedenshausen gelangen?

So ist an dieser Stelle eine historische Grenze durchbrochen. Mancher Rother Junge schon heiratete ein Mädchen aus Steinbrücken oder Mandeln, und manche Nassauerin fand Ihren Liebsten im Hessischen. Sonntags kommen die Menschen von diesseits und jenseits zueinander, sitzen ein Stündchen zusammen, plaudern von ihrem Vieh, ihren Äckern und ihrer Arbeit. Nur wenn der Eibelshäuser seinen Acker in „Ruten“ mißt, dem alten nassauischen Maß, dann hat der Simmersbacher, der den hessischen „Morgen“ anwendet, gewisse Schwierigkeiten.

Quelle: unbekannte Tageszeitung aus dem Jahr 1951